Wie entwickelt man mitreißende Figuren?

Um das Thema „Wie geht man eigentlich bei der Charakterentwicklung in Romanen vor?“ geht es diese Woche in unserer Autor_innengruppe auf Instagram. Deshalb möchte ich diese Frage ein wenig ausführlicher in diesem Beitrag meines „Autoren-Kaffeekränzchens“ beantworten. Obwohl man allein über die Figurenkonzeption ganze Ratgeber schreiben und lesen kann.

Das Ziel einer Figur

Was will die Figur überhaupt? Was ist ihr höchstes Ziel, auf das sie all ihr Handeln ausrichtet? Diese Frage sollte man sich am Anfang des gesamten Schaffensprozesses stellen.

Meine Protagonistin Elisa in „Wie der Sturm im Frühling“ beispielsweise setzt ihre Familie über alles. Ihre Familie durchzubringen und in unseren Kriegszeiten abzusichern, beeinflusst ihr gesamtes Handeln. So erwägt sie, einen reichen Mann zu ehelichen, den sie verabscheut, um ihre Schwestern finanziell zu versorgen. Sie trotzt ihrer Angst vor den französischen Besatzungssoldaten, um für ihre Schwester, die von einem dieser Männer verführt wurde, einzutreten. Sie widersteht ihrer Zuneigung zu dem Offizier Tristan, weil sie um den Ruf ihrer Familie und die Auswirkungen dieser Affäre für ihre Schwestern besorgt ist.

Autoren

Natürlich haben wichtige Figuren nicht nur ein Handlungsziel. Es gibt auch kleinere Nebenziele, damit eine Figur rund erscheint. Bei Elisa ist die Familie klar der Mittelpunkt ihres Handelns, aber auch andere Ziele verfolgt sie. Beispielsweise will sie wissen, wer für das Verschwinden ihres Bruders verantwortlich ist. Sie möchte sich gegen ihre jüngere Schwester durchsetzen, die ihr immer wieder einen Strich durch ihre sorgsam gehegten Pläne macht. Diese Nebenziele konstruieren im weiteren Verlauf die Nebenhandlungen, die den Hauptstrang der Geschichte umgeben.

Die Wandlung einer Figur

Eine Figur muss sich während der gesamten Romanhandlung meiner Meinung nach verändern. Sie muss ihre Haltung revidieren oder etwas dazulernen. Ansonsten wirken Figuren platt und man fragt sich am Ende: wozu hat er/sie das jetzt durchgemacht? Ich persönlich mag Romane (oftmals Romanreihen) nicht, in denen eine Hauptfigur entweder gar nicht ändert oder die Veränderung wieder rückgängig gemacht wird. Ein schönes Beispiel hierfür sind die „Sharpe“-Romane. So wunderbar sie geschrieben und recherchiert sie auch sein mögen, die Hauptfigur ist absolut beratungs- und veränderungsresistent.

Meist notiere ich mir hierzu einen kurzen Satz, damit ich die Wandlung einer Figur auf den Punkt bringe. In meinem aktuellen Roman „Das Flüstern des Löwenzahns“ verändert sich die Protagonistin von einer reichen, verwöhnten Göre in eine Frau, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernimmt und die Belange der einfachen Menschen nachvollziehen kann und respektiert.

In meinem Roman „Wie der Sturm der Ewigkeit“ beispielsweise wandelt sich meine Protagonistin Tess von einer fanatischen Anhängerin der Befreiungsbewegung gegen Kaiser Napoleon zu einer deutlich reflektierteren Beobachterin dieser Ereignisse, die von den Kriegsfolgen schockiert und geprägt ist.

Charakter-Steckbrief

Jedes Schreibprogramm für Autor_innen bietet ihn inzwischen an: den Charakter-Steckbrief.

Manchmal ist dieser recht ausführlich, manchmal eher rudimentär und kann beliebig ergänzt werden. Ich benutze diese vorgefertigten Steckbriefe meist nur für die erste grobe Planung, damit ich alle Figuren auf einen Blick zusammen habe. Detaillierte Planungen mache ich mit einem von mir individualisierten Steckbrief, den ich auf jedes Projekt noch einmal anpasse. Dabei gilt für mich: je mehr Details, desto besser. Man muss ja nicht alle Fakten im Roman raushauen. Auch muss der Steckbrief nicht sofort vollständig sein. Manchmal ergänze ich Details (wie Verletzungen) im Verlauf des Schreibprozesses.

Ich notiere dabei wirklich alles. Die Biografie der Figur mit Jahreszahlen, die Namen wichtiger Familienmitglieder, die politische und religiöse Einstellung, die sexuelle Orientierung und eventuelle Vorlieben, die Lieblingsautoren, die Namen der Haustiere…

Die Benutzeroberfläche von yWriter7 (Quelle: yWriter)

Welche Vorteile aber hat ein solcher Steckbrief, denn es ist sehr zeitaufwändig, für alle wichtigen Figuren einen solchen anzulegen. Einmal vergisst und vertauscht man auf diese Weise nicht körperliche Merkmale, denn nichts ist ärgerlicher, als wenn man während des Schreibens nicht mehr weiß, welche Augenfarbe wer hatte und dann im Manuskript suchen muss. Oder es direkt falsch macht. Oder wenn eine Narbe während des Romans quer durch das Gesicht wandert.

Zweiten kann man besondere Eigenschaften in einem Steckbrief reduziert und auf den Punkt gebracht notieren und auf dieser Notiz weiter aufbauen.

Nützliche Programme

Wie gesagt, beinhalten die meisten professionellen Schreibprogramme bereits ein Programm für Charakterskizzen. Ich jedoch arbeite mit yWriter, welches kostenfrei erhältlich ist. Da ich mit dem Programm Scrivener arbeite, welches einen eher schlechten Steckbrief-Bereich besitzt, hat yWriter für mich den Vorteil, dass ich die Charaktere extern anlegen kann. Auch Orte, besondere Gegenstände etc. lässen sich detailliert anlegen.

Schwächen und Stärken

Der wichtigste Punkt in diesem Steckbrief ist der Punkt „Stärken und Schwächen“. Der wunde Punkt einer Figur ist der Ausgangspunkt für seine innere Leidenschaft und damit für seine Motivation sich den gesamten Roman über durch den Autoren bzw. die Autorin quälen zu lassen.

In meinem Roman „Das Flüstern des Löwenzahns“ ist die Schwäche meines Protagonisten Emile eindeutig sein unkontrollierbarer Hass auf den Antagonisten, den er für den Tod seines jüngeren Bruders verantwortlich macht. Wenn der Antagonist im Raum ist, kann Emile nicht mehr klar denken und verhält sich anders, als in allen anderen Situationen, in denen er sehr gefasst und gelassen erscheint. Dieser Hass wiederum ist es, der ihn antreibt und sein Ziel im Roman definiert. Er möchte den Antagonisten töten.

Ebenso wichtig sind seine Stärken. Diese Stärken sind es, die ihn dazu bringen, sein Ziel letztendlich zu erreichen. Emile beispielsweise ist loyal, tapfer und ehrgeizig. Dies lässt ihn schließlich einen Plan ersinnen, den Antagonisten loszuwerden, ohne dass ihm Blut an den Fingern klebt.

Natürlich kann es auch sein, dass die Stärken die Schwächen nicht aufwiegen. Dann driftet die Figur in eine dunklere Ecke. Ebenso kann die Konseption dazu führen, dass eine Figur letztendlich in ihrem Handeln scheitert.

Die Stimme der Figur

„Ach Gottchen!”, stammelte er und wollte mich dann doch von seinem Freund fernhalten.

„Ist das heute Ihre Standardantwort?”, fuhr ich ihn an und gab ihm einen Klaps auf die Hand, die er abwehrend vor mich hielt. „Pécheur, ziehen Sie sich Ihren Stock aus dem Arsch! Was hat Ihr Freund? Wenn er krank ist, gehört er ins Lazarett.”

aus: „Das Flüstern des Löwenzahns“

Jeder Mensch hat Besonderheiten beim Sprechen und Schreiben. Ich beispielsweise benutze zu oft das Wort „mal“, wenn ich rede. Andere Leute bauen in jeden Satz ein „halt“ ein, andere benutzen wunderbare, unverwechselbare Ausrufe, andere können herrlich fluchen. Wieder andere haben eine angenehme Stimme, die einen regelrecht in seinen Bann zieht, oder sie können gut mit Wörtern umgehen. Im Beispiel oben benutzt die eine Figur immer wieder den Ausruf „Ach Gottchen!“ (fast schon wie eine Art Erkennungszeichen), während die Protagonistin durch ihre recht derbe Ausdrucksweise auffällt.

Es ist also wichtig, dass man einer Figur auch eine unverwechselbare Stimme gibt. Manchmal mehr, manchmal weniger ausgeprägt. Gerade bei den wichtigen Figuren benutze ich hierfür oft die Methode des „fiktionalen Interviews“, um ein Gefühl für die Art des Redens, Argumentierens und damit auch für die Figur an sich zu bekommen. Am Anfang kommt man sich dabei ausgesprochen dumm vor, wenn man mit seinen eigenen Figuren „chattet“, aber diese „Stimmproben“ sind nachher essentiell für meine Arbeit.

Soziogramme

Manchmal hilft es, wenn man sich eine Figur auch mithilfe anderer Darstellungsformen ein wenig veranschaulicht. Wenn eine Figur sehr viele unterschiedliche ambivalente Beziehungen unterhält, die im Roman wichtig sind (ich meine hier nicht, ob der Antagonist seine gebrechliche Großtante regelmäßig besucht), dann ist es oftmals sinnvoll, ein Soziogramm zu erstellen. Wenn die Figur dann auf eine andere trifft, kann man dieses zur Rate ziehen und weiß wieder, wie die Figuren zueinander stehen.

Figuren „lebensnah“ planen

In einigen Ratgebern findet man den Tipp, dass man besonders seinen Protagonisten und den Antagonisten besser als die engsten Freunde kennen sollte. Dabei sollte man versuchen, möglichst viel aus dem Leben der Figur „in Erfahrung“ zu bringen, damit ein schlüssiges Bild dieser Figur entsteht, denn dieses beeinflusst unbewusst auch die Art, wie wir eine Figur agieren oder reden lassen.

Auch ich versuche meine Figuren wie gute Freunde zu behandeln, die ich gerne besser kennen lernen möchte. Welches Buch haben sie gelesen? Wie ist ihre Einstellung zur Religion? Mögen sie Kinder? Wie lief ihre letzte/erste Beziehung? Was ist eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, die sie besonders mögen. Was ist ihr Lieblingsessen? Alles Details, die nicht im Roman auftauchen müssen. Aber in meinem Kopf entsteht dadurch ein komplexeres Bild und dieses kann ich besser in meinen Romanen abbilden.

Aber auch als Randbemerkungen eignen sich solche Details sehr gut. Beispielsweise erwähne ich in meinem Debütroman „Als das Schneeglöckchen fliegen lernte“, dass mein Protagonist Adrien „Spanische Suppe“ nicht leiden kann, weil er die Konsistenz widerlich findet. Für die Handlung ist dieses Detail unerheblich. Aber es lässt die Figur nahbarer und runder wirken.

Kritik & Anregungen?

Immer her damit! Über Eure Rückmeldungen zu diesem Blogbeitrag freue ich mich sehr.

Liebe Grüße

Autoren-Kaffeekränzchen

Themen:

Als das Schneeglöckchen fliegen lernte, Autoren-Kaffeekränzchen, Autorinnensonntag, Das Flüstern des Löwenzahns, Historischer Roman, Wie der Sturm der Ewigkeit, Wie der Sturm im Frühling

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