Augenzeugenberichte und andere Quellen
Mein letzter Beitrag unter „Autoren-Kaffeekränzchen“ ist schon einige Wochen her, was hauptsächlich daran lag, dass ich selbst bis zu den Ohrenspitzen in der Arbeit versunken bin. Doch heute geht es endlich weiter mit den beiden anderen Standbeinen einer guten Recherche: der Sichtung und Einordnung von Quellen.
Ein bisschen Theorie schadet nie
Im Allgemeinen unterscheidet man in der Geschichtswissenschaft zwischen Primärquellen, also Informationen aus erster Hand wie Augenzeugenberichten, Briefen, Fotos, Gemälden, die in direkter zeitlicher Nähe zu dem untersuchten Ereignis entstanden sind und damit eine erste Überlieferung eines solchen darstellen, und Sekundärquellen, also Texten etc. die sich aus einer gewissen Distanz mit einem Thema befassen und Überlieferungen aus zweiter Hand darstellen. Dabei greifen Sekundärquellen Primärquellen in Form von Zitaten auf, setzen sie in übergeordnete Zusammenhänge und bewerten sie teilweise vor einem gewissen Hintergrund.
Ach und falls man einmal bei Günther Jauch eingeladen ist und zu dem Begriff der „Tertiärquellen“ befragt wird: Das sind Quellen, die Sekundärquellen zusammenfassen und als ersten Überblick auswerten, beispielsweise Lexika oder Enzyklopädien.
Warum es ein Fehler ist, sich nur mit einer Quellenart zu beschäftigen
Ja, Primärquellen sind authentisch. Sie geben die Erlebnisse einer Person wider, ihre Ansichten, ihre Gefühle und sind daher gerade für uns Autorinnen und Autoren von historischen Romanen eine wichtige Bezugsquelle. Schließlich wollen wir keine Sachbücher schreiben. Wir schreiben über die Menschen, ihre Emotionen, ihre Beweg- und Abgründe. Wenn ich also einen Roman über eine historische Persönlichkeit schreiben will, reicht es dann nicht, dass ich mich lediglich mit Primärquellen beschäftige? Wenn ich über einen deutschen Offizier im Dritten Reich schreiben will, der eine Rolle während des Holocausts gespielt hat, und zu diesem Zweck seine Tagebücher und seine Briefe an seine Ehefrau und seinen Bruder studiere?
Also: Es ist unbezahlbar, sich beispielsweise mit einer Augenzeugin über die Erlebnisse in einem Feldlazarett während des Zweiten Weltkriegs zu unterhalten. Ich liebe es auch immer, ältere Verwandte und Bekannte über die Erlebnisse in ihrem Leben auszuquetschen. Aber das, was man dort erfährt, sollte man stets kritisch hinterfragen.
Primärquellen sind nicht immer verlässlich
Nein. Abgesehen davon, dass man für einen historischen Roman die geschichtlichen Hintergründe im Schlaf beherrschen sollte, vor denen eine Handlung spielt, ist es auch nicht unerheblich, die Aussagen einer historischen Persönlichkeit kritisch zu betrachten. Oftmals sind Primärquellen verfälscht. Dabei spreche ich nicht ausschließlich von Zensur oder bewusster Propaganda, sondern auch von persönlichen Motiven während des Verfassens.
Vielleicht verschweigt besagter Offizier seiner Frau gegenüber, was er auf seinen Dienstreisen wirklich tut. Vielleicht hat er selbst nicht alle notwendigen Informationen, um sein Handeln zur Gänze zu verstehen. Vielleicht prahlt er seinem Bruder gegenüber von seinen Taten an der Front und erfindet etwas dazu. Immerhin erzählen in Primärquellen normale Menschen einen Ausschnitt der Geschichte. Der Gesamtzusammenhang und die wissenschaftlich neutrale Betrachtung fehlt und muss überprüft werden.
Wichtige Primärquellen fehlen
Je weiter man in der Geschichte zudem zurückgeht, umso rarer werden solche Primärquellen zudem. Ich habe das Glück, dass über die Napoleonische Epoche noch viel in Archiven aufzustöbern ist. Aber einige hundert Jahre früher waren die Fähigkeiten der Menschen, sich schriftlich auszudrücken, noch deutlich seltener anzutreffen, sodass nur wenige Zeugnisse vorhanden sind. Und dass die Menschen in der Steinzeit keine umfassenden Autobiografien hinterlassen haben, ist immer noch ein kleiner Skandal (aber versaute Szenen auf Höhlenwänden hinterlassen, dafür hatten sie Zeit…).
Nicht zu vergessen ist außerdem, dass in gewissen wenig rühmlichen Episoden der Geschichte auch Zeugnisse bestimmter Personen bewusst vernichtet wurden. Etwa, weil sie in Ungnade gefallen sind. Weil sie Meinungen vertreten haben, die nicht mit der Meinung der Obrigkeit konträr ging. Oder weil Personen sich nach dem Tod besagter Persönlichkeit genötigt sahen, das Bild dieser in der Öffentlichkeit zu korrigieren.
Viele Köche verderben den Brei?
Bei der Recherche trifft das meiner Erfahrung nach nicht zu. Gerade wenn es sich um Leerstellen in der Geschichte handelt, ist es oftmals gut, verschiedene Sekundärquellen zurate zu ziehen. Ein typisches Beispiel sind die verschwundenen Prinzen Edward und Richard im Jahr 1483 (?) im Tower von London. Wer hat die beiden Jungen umgebracht? Hatte ihr Onkel Richard III wirklich die Finger im Spiel, wie später gerne behauptet wurde (tja, die Tudors mussten eben Propaganda gegen die Plantagenets machen). Wurden sie überhaupt umgebracht? Was ist ihnen zugestoßen? Niemand weiß es bisher.
Daher ist es gut, verschiedene Sekundärquellen mit unterschiedlichen Deutungen und Herangehensweisen zu studieren. Denn auch Sekundärquellen werden von Menschen geschrieben und gleichgültig, wie hochwissenschaftlich sie an eine Sache herangehen, auch ihre Meinung, ihre Emotionen spielen unbewusst in ihren Texten eine nicht unerhebliche Rolle. Und über manche Themen streiten Historiker leidenschaftlich.
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Quellen:
Stefan Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Reclam, Ditzingen 2019, S. 75 ff.