Wann darf ich von der Historie abweichen?
Wie genau muss ich es mit der wissenschaftlichen Korrektheit in meinem Roman eigentlich halten? Darf ich etwas dazuerfinden, etwas weglassen oder fiktiv überhöhen? Darum soll es in diesem Beitrag von meinem „Autoren-Kaffeekränzchen“ gehen.
Kenne deine Zielgruppe!
Was für Romane schreibst du? Für wen schreibst du sie? Mit dieser Frage, das merkst du spätestens jetzt, musst du dich auch bei der Planung und beim Schreiben deines Romans immer wieder auseinandersetzen. Denn davon ist abhängig, wie du die Rechercheergebnisse, auf die du so viel Zeit und Mühen verschwendet hast, umsetzt.
Meine Zielgruppe sind vornehmlich Frauen zwischen Ende 30 und Ende 60, aber auch Männer mit geschichtlichem Interesse, die einen gut recherchierten historischen Roman lesen wollen, in dessen Mittelpunkt eine romantische Liebesgeschichte vorkommt. Personen, die auf hundertprozenzige historische Korrektheit wertlegen und jedes historische Detail aufs akribischste kontrollieren sind bei mir ebenso falsch, wie Leute, die eine seichte Liebesgeschichte mit vielen Erotikszenen und etwas mauer Handlung erwarten (wobei ich immer die Krise bekomme, dass man mir anhand meiner Person automatisch unterstellt, dass ich offensichtlich genau diese Romane schreibe). Wer meine Romane liest, erwartet ein gut recherchiertes Fundament und kann auch damit umgehen, dass Schlachtszenen und andere Beschreibungen von Gewalt vorkommen.
Diese Festlegung der Zielgruppe zeigt dir, was von dir erwartet wird und was für Personen deine Leserinnen und Leser sind. Ich gehe davon aus, dass meinen Leserinnen und Lesern in der Regel die groben geschichtlichen Zusammenhänge bekannt sind. Sie lesen immerhin viel in diesem Genre und lassen sich nicht veräppeln. Gleichzeitig ist es meine Intention als Autorin (dieser Satz wird wichtig, wenn irgendjemand einmal auf die Idee kommt, dass meine Werke in der gymnasialen Oberstufe als Lektüre relevant sind 😋), dass ich über geschichtliche Ereignisse aufkläre. Und dazu muss ich schon ordentlich Fakten liefern. Daher ist es mein Anspruch, nah an den tatsächlichen Ereignissen zu bleiben und nichts zu unterschlagen.
Wann darf ich die Historie außer acht lassen?
Wann immer es für deine Handlung wichtig ist. Denn die Handlung steht trotz allem immer im Vordergrund. Ansonsten solltest du vielleicht überlegen, ein Sachbuch zu schreiben. Belletristik will unterhalten und das geht nur schwierig, wenn die Handlung langatmig ist und aufgrund vieler fachwissenschaftlicher Themen, von denen der geneigte Leser keine Ahnung hat, im Hintergrund steht.
Oftmals gibt es so viele Details, so viele Daten, so viele Ereignisse, die von Wichtigkeit sind, dass man sie ohnehin nur schwer in einem Roman unterbringen kann. Wichtig ist dabei ist, aus wissenschaftlich neutraler Sicht zu entscheiden, welche Fakten für die Handlung unerlässlich sind. Um dabei den Überblick nicht zu verlieren, nehme ich meine Zeitleiste, die ich während der Recherche erstellt habe, und markiere alle Ereignisse, auf die ich im Roman Bezug nehmen muss. Fakten, die für die Handlung und deren Fortgang unnötig sind, erwähne ich maximal im Anhang.
Was ist aber, wenn die Fakten vorne und hinten nicht zur Romanhandlung passen?
Das kann zwei Gründe haben: Der Plot passt nicht zu dem Ereignis, das im Mittelpunkt stehen soll. Oder es wurde versucht, zu viele irrelevante Fakten unterzubringen. Dann muss man sich noch einmal auf den Hosenboden setzen, überlegen, was die Prämisse des eigenen Textes war und ob man diese noch verfolgt oder ob sie sich während des Plottens verändert hat.
Meistens sind es aber eher Kleinigkeiten, die sich gegen die Verarbeitung im Roman sträuben. Beispielsweise benötigte ich in meinem Debütroman „Als das Schneeglöckchen fliegen lernte“ eine Schlacht, bei der ich meinen männlichen Protagonisten einführen und als sehr ehrgeizigen und ausgesprochen fähigen Capitaine der Kürassiere präsentieren konnte. Das Problem war, dass in dem Zeitraum, den ich dafür vorgesehen hatte, keine Schlacht stattfand. Nichts, nicht einmal ein winziges Gemetzel. Da habe ich dann nachgeholfen und meine Rechercheergebnisse zu einer anderen Schlacht bei der Beschreibung einer fiktiven Schlacht einfließen lassen. Natürlich habe ich dies in meinem Anhang offengelegt (zu dem kommen wir ein anderes Mal aber noch genauer).
Ein anderes Beispiel ist, dass Fakten für den Leser oder die Leserin in unserer Zeit manchmal befremdlich sind und auch nicht ansprechend aufgedröselt werden. Weil es einfach ungeschriebene Vereinbarungen gibt, nach denen Leser ihre Bücher aussuchen. Wenn man als Autor gegen diese Vereinbarungen verstößt, kann es sein, dass das Buch beiseite gelegt wird. Ein drastisches Beispiel ist in meinem Fall, dass ich- auch wenn es natürlich im 19. Jahrhundert Alltag war- nur am Rande (wenn überhaupt) das Sterben von Kindern thematisiere. Den Mord an ihnen behandle ich nicht.
Ein seichteres Beispiel ist das Aussehen der Figuren. So trugen Husaren einige Zeit lang beispielsweise kleine Zöpfchen, Grenadiere Schnauzbart. Beides unterschlage ich in den Beschreibungen meiner Figuren stets.
Ein anderes großes Problem ist oftmals, dass Ereignisse in der Geschichte oft weit auseinanderliegen. Militärische und politische Konflikte oder auch wirtschaftliche Probleme entstehen oftmals nicht über Nacht. Sie entwickeln sich über mehrere Monate und Jahre. Einen Roman über eine solche Dauer spielen zu lassen, ist aber sehr aufwändig und mich persönlich stören viele Zeitsprünge oftmals im Lesefluss. Eine Möglichkeit ist daher, die Ereignisse zeitlich zu raffen und so die Erzählgeschwindigkeit hoch zu halten. Eine andere Option kann auch eine Romanreihe sein, in der die geschichtliche Entwicklung deutlich kleinschrittiger erklärt wird.
Der innere Perfektionist
Als ich damals diese Schlacht mitten im Schnee erfunden habe, hatte ich ordentlich Bauchschmerzen. Ich dachte: „Warum hast du so lange und ausführlich recherchiert, wenn du dir dann einfach so etwas Wichtiges ausdenkst?“ und direkt danach kamen die nächsten Zweifel. „Wenn das jemand liest, der davon Ahnung hat, zerlegt er dich öffentlich.“
Inzwischen habe ich gelernt, dass es Alltagsgeschäft ist, dass Fakten für einen Roman geändert werden müssen. Dazu gehört, dass man Abläufe strafft, bestimmte Facetten hervorhebt, bestimmte Ereignisse dramatisiert, andere abschwächt. Wichtig ist aber, dass du als Autor_in weißt, dass du das tust. Ich bin deshalb dazu übergegangen, dass ich mein Nachwort nutze, all jene Stellen aufzudröseln, bei denen ich etwas habe ändern müssen. Somit ist man fein raus und niemand kann einem unterstellen, dass man schlampig gearbeitet hat. Wenn einer fragt, warum man von den Fakten abgewichen ist, antworte ich immer „aus handlungstaktischen Gründen“.
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